Die Primavera findet 2020 aufgrund der Corona-Pandemie im Hochsommer statt. Dieser Umstand hat auch dazu geführt, dass die Strecke des ersten Monuments der Saison stark verändert werden musste. Da die Bürgermeister der italienischen Küstenorte dem Rennveranstalter RCS kein Go zur Durchführung der bekannten Route gaben, musste umdisponiert werden. Anstelle des Turchino-Passes sowie den drei aufeinanderfolgenden Anstiegen an der Riviera – Capo Mele, Capo Cerva und Capo Berta – führt die Strecke nun über die Berge Niella Belbo und Colle die Nava, ehe das Peloton dann Imperia an der Küste erreicht. Von dort geht es auf der alten Strecke über Cipressa und Poggio auf die Via Roma in Sanremo. Alpecin Cycling sprach mit dem Ex-Profi und vierfachen Primavera-Sieger Erik Zabel über das „neue“ Mailand-Sanremo.
Wie schätzen Sie den neuen Kurs von Mailand San Remo ein?
Ich habe nur die klassischen Informationen aus dem Internet, bin die Strecke selbst nicht abgefahren. Aber ich habe mit meinem Sohn Rick telefoniert, da ich auch neugierig auf die Strecke bin. Er hat mit seinem Team Israel Startup Nation ja schon den Recon (Anmerk. der Red.: Erkundungsfahrt) gemacht. Rick meinte, die Strecke sei schwerer, da der Weg zur Küste bis nach Imperia anspruchsvoller ist, als die frühere Route über den Turchino-Pass. Bei der Hälfte des Rennens kommt mit dem Niella Belbo ein 20 Kilometer langer Berg, der nie wirklich steil ist, aber sich zieht. Danach folgt noch ein zweiter Anstieg, ehe es nach Imperia geht. Insofern denkt er, dass das Rennen vom Profil her ein wenig schwerer wird, aber der Charakter sich durch die neue Strecke nicht grundsätzlich ändert.
Den größten Unterschied werden sehr wahrscheinlich die Wetterbedingungen machen. Es wird weniger die Hitze im Finale das Problem sein, da unten an der Blumenriviera ein frischer Wind vom Meer her weht. Vielmehr werden die heißen Temperaturen bis zur Küste den Fahrern zu schaffen machen. Das sind ja allein bis Imperia 260 Kilometer. Es ist jetzt nicht davon auszugehen, dass es wieder 40 Grad werden wie am Samstag bei Strade Bianche. Aber 260 Kilometer durch die Sonne bei 30 bis 35 Grad sind ja auch nicht ohne.
Wären das Bedingungen für Sie gewesen?
Ich bin während meiner Karriere selbst gut mit der Hitze zurechtgekommen. Eines meiner wärmsten großen Rennen, an dass ich mich erinnern kann, war das Straßenrennen bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona (Anmerkung der Redaktion: Zabel wurde Vierter). Da zeigte das Thermometer 41 Grad im Schatten, und davon gab es sehr sehr wenig. Aber ich werde das Rennen am Samstag klimatisiert zuhause vor dem Fernseher genießen. Das sieht man eh am besten.
Nimmt der veränderte Streckenverlauf Einfluss auf die Taktik?
Schwer zu sagen, aber durch das Profil bis Imperia könnte der eine oder andere Sprinter Probleme bekommen, frisch bis ins Finale beziehungsweise bis zur Cipressa oder dem Poggio zu gelangen. Rick meinte, dass durch das Fehlen der drei Capi den Fahrern die Orientierungspunkte im Rennen fehlen. Dort merken die Fahrer sonst zum einen wie gut ihre Beine am Anstieg sind, zum anderen kennen sie die Position, an der sie sein sollten. Am Samstag können sie sich erst ab Imperia auf die alte Orientierung verlassen.
Glauben Sie, dass ähnliche Rennfahrer-Typen wie auch in den Jahren zuvor Mailand-Sanremo gewinnen können?
Das Faszinierende an dem Rennen ist, dass es einen Kreis von komplett unterschiedlichen Fahrern gibt, die erfolgreich sein können. Der wird meiner Meinung nach jetzt durch die aktuelle Situation sogar noch ein bisschen verstärkt. Dazu zählen Klassiker-Fahrer, die tempofesten Sprinter, Finisseure und sogar GrandTour-Contender wie Vincenzo Nibali, die jetzt auch in einer guten Form sind. Letztere können natürlich mit einer ultimativen Attacke den Sieg herausfahren. Ich glaube, man kann sagen, dass sich der Charakter von Sanremo durch die Streckenveränderung nicht grundlegend verändern wird.
Cipressa oder Poggio, welcher Anstieg eignet sich für die Attacke?
Das wird interessant sein, das am Fernseher zu verfolgen. Wenn die Strecke beziehungsweise das Rennen bis Imperia dann tatsächlich schwerer sein sollte, könnte es durchaus sein, dass alljene, die die sich bislang noch mit letzter Anstrengung über die Cipressa gerettet haben, dann schon zurückfallen. Vielleicht fehlt diesen Fahrern dann das Quäntchen Energie. Und vielleicht gibt es ein Team, das einen Rennplan für mehrere Fahrer hat. Und der vorsieht, an der Cipressa schon mal durch den Co-Kapitän eine Attacke zu lancieren. Also eine Mannschaft, die einen Fahrer für eine längere Attacke an der Cipressa sowie einen Fahrer für die ultimative Attacke am Poggio hat. Dann aber natürlich auch beiden die Chance gibt, ihren Plan umzusetzen.
Sobald es ein Team gibt, dass einen richtigen Renn- beziehungsweise Siegplan hat, und der dann auch konsequent umgesetzt wird, ist das Makulatur. Ich will damit sagen: Die haben dann nur Plan A für den Poggio und fahren so kontrolliert schnell die Cipressa hoch, dass gar keiner auf die Idee kommt, zu attackieren. Dann sind natürlich die Planspiele der anderen Teams über den Haufen geworfen.
Streckenprofil von Mailand-Sanremo 2020
Zum neuen unbekannten Kurs und der Hitze kommt ja seit vergangener Woche erschwerend hinzu, dass nur sechs anstelle von sieben Fahrern pro Team an den Start gehen dürfen. Zu Ihrer Zeit waren acht Fahrer erlaubt. Kann die kleine Teamgröße Einfluss auf das Rennen beziehungsweise die Taktik haben?
Das ist eine gute Frage. Da habe ich bis jetzt noch gar nicht drüber nachgedacht. Die Information kam ja auch vom Rennveranstalter sehr sehr spät. Diese übliche Strategie, die man noch aus meiner Zeit kannte, 5 Mann auf 14 Minuten wegfahren lassen, diese kontrolliert an der langen Leine lassen und vor dem Finale zurückholen, das wird sicher mit der Teamgröße nicht mehr so einfach funktionieren. Ich würde jetzt eher davon ausgehen, dass die Marketing-Fluchtgruppe – also in der die Fahrer ihre Sponsoren präsentieren – es zum einen deutlich schwerer haben wird, sich zu lösen. Zum anderen wird sie nicht besonders groß sein.
Wenn aus den kleinen Teams ein oder zwei Fahrer in die Fluchtgruppe springen, dann sind vorne auf einmal über ein Dutzend Rennfahrer. Dann gibt es halt genau das Szenario, dass im Feld die großen Teams schon früh mit zwei bis drei Mann einsteigen müssen und ihre Leute fürs Finale verlieren. Dass könnte im Worst Case bedeuten, dass dann schon unten am Poggio Mann gegen Mann gefahren würde. Das sind natürlich alles Punkte, die für ein Szenario sprechen, dass eine kleine Gruppe am Ziel ankommt.
Wir haben in den vergangenen Jahren ja unterschiedliche Rennverläufe gesehen. Da haben ja die Co-Kapitäne beziehungsweise die Leutnants teilweise auch schon das Rennen schwer gemacht und an der Cipressa attackiert. Sie haben bewusst daraufgesetzt, dass die Attacke neutralisiert wird und verpufft, aber dass dabei so viel Energie bei den anderen Teams verschleudert wird, dass das praktisch das Sprungbrett für den echten Kapitän wurde. Je mehr ich darüber nachdenke, glaube ich das bei all den Vorzeichen die Chancen für einen reinrassigen Sprinter, der ja in den vergangenen Austragungen auch schon nicht mehr solch große Chancen hatte, durch die kleinere Teamgröße noch mehr schwinden wird.
Wird ein übermächtiges Klassikerteams wie Deceuninck-Quick Step unter der Verkleinerung leiden?
Normalerweise kennen wir das ja immer, dass das Wolfspack mit drei Mann kommt, die alle gewinnen können. Die anderen vier sind klare Helfer. Deceuninck-Quick Step ist jetzt ja auch keine Mannschaft, die verlegen darum ist, die Regie zu übernehmen und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Oft ist es ja aber dann so, dass es andere Teams gibt, die erstmal komplett unter dem Radar mitfahren, um dann mit ihren Fahrern zum entscheidenden Schlag auszuholen.
Also ich könnte mir vorstellen, dass eine Mannschaft, die ihre sechs Mann unterm Radar bis Imperia bringt – ohne viel Energie in Nachführarbeit zu investieren, vielleicht im Finale aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit was bewegen kann oder dem Rennen den berühmten Stempel aufdrücken wird.
Entscheidend wird auch in diesem Jahr sein, so frisch wie möglich zum Poggio zu kommen. Ab da kannst Du als Fahrer deine individuelle Klasse ausspielen. Aber die Gefahr besteht natürlich, dass die Teams, die sich in die Favoritenrolle pressen lassen und arbeiten, dann vielleicht im Finale den Preis bezahlen, weil sie nicht mehr frisch sind. Und dass einem Team mit guten Fahrern, die sich verstecken, eine Überraschung gelingt.
Wie stehen Sie zur Verkleinerung der Teamstärke bei einem Monument wie Mailand-Sanremo?
Ich habe das mit der Verkleinerung der Mannschaften immer in den Kontext gestellt mit Scheibenbremsen, höhere Geschwindigkeiten und dass die Fahrer selbst nicht mehr mit 200 Mann großen Feldern rumfahren wollen. Dann wurden die Tour-Mannschaften von neun auf acht reduziert. Jetzt schreien die ersten nach sieben Fahren, damit Ineos nicht mehr so eine Übermacht darstellt. Wenn jetzt wirklich sicherheitsrelevante Punkte den Ausschlag geben, dann kann man das nicht wegdiskutieren. Aber bei Mailand-Sanremo haben sie von sieben auf sechs Fahrer pro Team reduziert. Aber gleichzeitig werden zusätzlich noch drei Wildcards verteilt und das Feld ist fast genauso groß wie vorher. Insofern kann ich das gar nicht nachvollziehen.
Für mich macht ja gerade den Profiradsport auch aus, dass man diese klaren klassischen Rollenverteilungen im Team hat – vom Domestiken über den Road Captain, Leutnant, Co-Kapitän und Kapitän. Bei sechs Fahren wird es natürlich schwer, die Rollen zu verteilen.
Wenn dann einer noch krank wird oder nicht ganz fit ist, dann wird es ganz eng.
Ja und was in den Zeiten von Corona natürlich noch erschwerend hinzukommt, ist die Tatsache, dass Du als Teamchef nie weißt, ob Deine Jungs in Mailand tatsächlich starten dürfen. Wenn einer positiv auf Corona getestet ist – im schlimmsten Fall falsch positiv – dürfen er und sein Zimmernachbar nicht an den Start. Aber Du bekommst ja teilweise so schnell gar keinen negativ getesteten Fahrer mehr an den Start. Also ausgereift ist das alles nicht.
Fotos: @Kathrin Schafbauer
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